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Pflege und Gesundheitsversorgung neu denken – Meinungen und Eindrücke aus unterschiedlichen Perspektiven
Text: Mirjam Lang (Redaktion QM-PRAXIS) im Gespräch mit Dr. Christian Heidl, Prof. Dr. Hanna Brandt und Prof. Dr. Karsten Weber | Foto (Header): © Julien Eichinger – stock.adobe.com
Im Rahmen unserer Interview-Reihe „Pflege und Gesundheitsversorgung neu denken“ freuen wir uns sehr, in dieser Ausgabe die Einschätzungen von Herrn Dr. Christian Heidl, Frau Prof. Dr. Hanna Brandt und Herrn Prof. Dr. Karsten Weber wiedergeben zu dürfen. Die drei kennen sich durch einen langjährigen fachlichen Austausch, der von Beginn an durch eine besondere Offenheit und Neugier für die Perspektiven der jeweils anderen Professionen geprägt ist. Wie sie selbst betonen, ist das, was ihre Zusammenarbeit so bereichernd macht, die Vielfalt ihrer Blickwinkel auf die Gesundheitsversorgung: Herr Heidl bringt seine Expertise aus der Gesundheits- und Pflegewissenschaft und Gerontologie mit ein, Herr Weber seine tiefgehende Erfahrung in ethischen und sozialen Technikfolgeabschätzungen, und Frau Brandt ihre gesundheitswissenschaftliche sowie physiotherapeutische Perspektive. Aus dieser interdisziplinären Verbindung entstehen lebendige Diskussionen, neue Ideen und tragfähige Konzepte. Derzeit bündeln die drei Gesprächspartner ihr Wissen und ihre Erfahrungen in einem gemeinsamen Herausgeberwerk zur Entwicklung einer Pflegekultur, das zum Jahresende erscheinen wird – ein Projekt, das genau von dieser Vielfalt lebt.
Auszug aus:
QM Praxis in der Pflege
Ausgabe Oktober 2025
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QMP: Wie würden Sie den aktuellen Zustand des Pflegesystems in Deutschland aus Ihrer Perspektive beschreiben?
Prof. Weber: Als zurzeit selbst nicht unmittelbar Betroffener, betrachte ich das Pflegesystem in erster Linie aus wissenschaftlicher Perspektive. Es ist ein Handlungsbereich im Umbruch, ohne dass ganz klar ist, wie dieser Umbruch aussehen soll und wohin er in der Zukunft führen wird. Angetrieben wird dieser Umbruch vor allem von zum Pflegesystem externen Faktoren. Das ist in erster Linie der demografische Wandel, der sich in mehrfacher Weise auswirkt: Es gibt immer mehr pflegebedürftige Menschen, aber weniger Arbeitskräfte; außerdem wird die Finanzierung schwieriger, weil die Kosten schneller steigen als die Einnahmen. All dem soll durch Digitalisierung abgeholfen werden, aber die verläuft schleppend – nicht zuletzt, weil es innerhalb des Pflegesystems vonseiten mancher Stakeholder*innen erhebliche Zweifel bzgl. eines verstärkten Technikeinsatzes in der Pflege gibt.
Prof. Brandt: Ich glaube, entscheidend ist nicht nur, welche Technologien zur Verfügung stehen, sondern wie gut sie in den Pflegealltag integriert werden. Akzeptanz entsteht erst, wenn Pflegekräfte und Pflegebedürftige einen echten Nutzen sehen und die Bedienung unkompliziert ist. Wichtig ist auch die Habitualisierung – also, dass sich Mensch und Technik aneinander gewöhnen und die Anwendung ganz selbstverständlich Teil der täglichen Abläufe wird. Das braucht gute Implementierung, passende Rahmenbedingungen und Zeit. Gerade in der Pflege, wo persönliche Interaktion und Zeitdruck eine große Rolle spielen, entscheidet sich daran, ob Technik wirklich unterstützt oder eher belastet.
Dr. Heidl: Aufbauend auf den bereits genannten Herausforderungen, wie demografischer Wandel, Personalmangel und Arbeitsbelastung etc., liegen auch Chancen im Pflegesystem zugrunde, die bspw. im Bereich von Potenzialen, die in der Digitalisierung liegen, oder auch in der Entwicklung einer Pflegekultur eine Rolle spielen können, hin zu einer vermehrt lernenden, digital kompetenten und patientenorientierten Pflegepraxis. Hierbei geht es um Aspekte wie Digitalisierung, Kompetenzentwicklung der beteiligten Personen am Pflegeprozess sowie systemübergreifende nachhaltige Implementierung der Systeme in der stationären und ambulanten Pflegeversorgung. Weiterführend können neue Berufsbilder eine Rolle für die Versorgung spielen, wie z. B. aus der Perspektive der Pflege die „Advanced Nursing Practice“, die Community Health Nurse etc.
QMP: Was sind Ihrer Einschätzung nach aktuell die größten Hürden, mit denen die Pflege und Pflegekräfte zu kämpfen haben?
Prof. Weber: Das sind wohl vor allem die steigende Zahl der zu pflegenden Personen bei gleichbleibender oder schrumpfender Personalstärke; das führt zu erheblichen Belastungen, die eine ohnehin schon anstrengende Tätigkeit noch einmal schwieriger werden lassen.
Prof. Brandt: Ich sehe hier neben den fachlichen Herausforderungen vor allem die wachsende psychische und physische Belastung. Wenn Arbeitsverdichtung und Zeitdruck zunehmen, steigt auch das Risiko für Überlastung und gesundheitliche Probleme. Um dem entgegenzuwirken, braucht es ein gut aufgestelltes betriebliches Gesundheitsmanagement und eine betriebliche Gesundheitsförderung, die in der Arbeitszeit stattfinden. Nur so können die Maßnahmen auch tatsächlich wahrgenommen werden – gerade mit Blick auf Familien- und Pflegevereinbarkeit. Wertvolle Angebote gehen oft ins Leere, wenn Arbeitnehmende mit Familie oder zu Pflegenden diese Angebote noch versuchen, in ihrer Freizeit zu integrieren. Hier sind Arbeitgeber gefordert, Strukturen zu schaffen, die Gesundheitsschutz und Berufspraxis wirklich miteinander verbinden.
Dr. Heidl: Die größten Hürden liegen in den personellen, strukturellen und kulturellen Aspekten in der Pflege bzw. bei den Pflegekräften. Eine steigende Anzahl von pflegebedürftigen Menschen soll qualitativ hochwertig versorgt werden. Mit dem Mangel an Fachkräften, den herausfordernden Arbeitsbedingungen, dem Zeitmangel der Pflegekräfte etc. liegen Aspekte zugrunde, die einer Verbesserung bedurften. Hieraus gilt es, eine vermehrte Balance in der Versorgung und der entsprechenden Versorgungsqualität zu entwickeln. Digitalisierung, Kompetenzentwicklungen der Pflegekräfte interdisziplinäre Zusammenarbeit sind wesentliche Aspekte, die es nun voranzubringen und zu kombinieren gilt.
QMP: Wie würden Sie die aktuellen Arbeitsbedingungen in der Pflege bewerten?
Prof. Weber: Tatsächlich muss ich das gar nicht bewerten, denn die Realität spricht da eine sehr klare Sprache: Die oft kurze Verweildauer in diesem Beruf, die teilweise hohen Krankenstände und das eher geringe Interesse von Berufsanfänger* innen, in dieses Feld zu gehen, sprechen Bände. Die Bedingungen sind nicht besonders rosig.
Prof. Brandt: Die aktuellen Bedingungen bringen zweifellos große Herausforderungen mit sich – aber auch Chancen. Ein Blick in andere Gesundheitsberufe wie die Physiotherapie zeigt, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur die Versorgungsqualität steigert, sondern auch Ressourcen spart. Wenn wir diesen Ansatz in der Pflege noch stärker etablieren, können wir Abläufe effizienter gestalten und die Belastung einzelner Berufsgruppen verringern. Ein Miteinander auf Augenhöhe und mehr Autonomie im beruflichen Handeln durch Akademisierung in allen Gesundheitsberufen – sei es Physiotherapeut* innen, Logotherapeut* innen oder Pflegekräfte – würde die Attraktivität des Pflegeberufs deutlich erhöhen und zugleich die Versorgungsqualität langfristig erhalten.
Dr. Heidl: Die aktuellen Arbeitsbedingungen in der Pflegeversorgung, wie Arbeitsbelastung und Zeitdruck, Arbeitszeiten und Schichtdienst, sind große Herausforderungen und verlangen nach Lösungen. Diese Lösungen liegen u. a. in der Akademisierung des Berufes, den strukturellen Verbesserungen der Arbeitsorganisation in der gesellschaftlichen Aufwertung und Attraktivität des Berufsbildes. Wie bereits Frau Prof. Brandt darlegte, benötigt es u. a. auch eine vermehrte interdisziplinäre und strukturelle Zusammenarbeit in der Gesundheits- und Pflegeversorgung.
QMP: Was sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Gründe für das Verlassen des Berufsfeldes?
Prof. Weber: Wie schon gesagt bin ich nicht selbst betroffen, aber aus der Forschung ebenso wie aus Gesprächen mit in der Pflege tätigen Personen – sowohl mit Pflegenden als auch mit Leitungskräften – sind es vor allem die hohe physische und psychische Belastung sowie die unattraktive Gestaltung der Arbeitszeiten mit Schichtdienst, Bereitschaft und anderen, für Menschen aus anderen Berufen ungewöhnlichen Abläufen.
Prof. Brandt: Ich kann mich in den Gründen nur Herrn Prof. Dr. Weber anschließen und gleichzeitig etwas zu einem Vergleich zur Physiotherapie und dem Verlassen des Berufs beitragen. Auch in der Physiotherapie spielen physische Belastung und die unregelmäßigen Arbeitszeiten auch im Physiotherapieberuf eine Rolle. Viele Physiotherapeut*innen arbeiten in Kliniken, Rehabilitationszentren oder in der ambulanten Physiotherapiepraxis, wo sie lange Stunden auf den Beinen stehen und körperlich anstrengende Behandlungen durchführen müssen. Dies kann zu Muskel- und Gelenkbeschwerden führen, insbesondere im Rücken, in den Schultern und in den Händen. Auch in der teilweise unattraktiven Entlohnung sehe ich einen Grund für das Verlassen der Berufsfelder.
Dr. Heidl: Hinzufügend zu den Aspekten der Kolleg*innen und bspw. der physischen und psychischen Herausforderungen sind sicherlich auch die Arbeitsintensität, Weiterentwicklungsmöglichkeiten innerhalb des Berufs etc. zu nennen, welche für ein Verlassen des Berufsfeldes der Pflege sprechen. Es bedarf Lösungen, dass wieder mehr Zeit für die Pflege von Menschen zur Verfügung steht. Dass dieser Beruf, der nach Hingabe verlangt, wieder eine vermehrte Wertschätzung und Anerkennung erhält. Fortlaufend benötigt es eine Reduktion in der Arbeitsbelastung, im Schichtdienst etc. – und demgegenüber benötigt (positive) Anreize und Entwicklungsmöglichkeiten im Pflegeberuf, eine Verringerung in der Bürokratie, Gestaltungsmöglichkeiten etc. die eine Pflegekultur vermittelt, dass mit dem Beruf in der Pflege wieder vermehrt positive Bilder verbunden werden.
QMP: Stichwort Digitalisierung in der Pflege: Welche Auswirkungen hat die fortschreitende Digitalisierung Ihrer Meinung nach auf die Pflege? Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und Potenziale für den Einsatz neuer Methoden und Technologien in der Pflegepraxis?
Prof. Weber: Der Einsatz digitaler Technik ist in der Pflege dringend notwendig, um zumindest einige der bereits genannten Herausforderungen adressieren zu können. Herausfordernd sind aus institutioneller Sicht die Finanzierung von Digitalisierungsmaßnahmen, denn wenn man diesen Weg gehen will, muss man zunächst sehr viel Geld in die Hand nehmen. Die Weiterbildung der Mitarbeitenden in der Pflege muss sichergestellt werden. Nicht zuletzt muss Akzeptanz für die Digitalisierung bei allen Stakeholder*innen der Pflege – gepflegte wie pflegende Personen, Angehörige und sicherlich noch andere Gruppen – gegeben sein. Das ist aber nicht immer der Fall, denn es gibt eine erhebliche Skepsis gegenüber Technik in der Pflege. Angesichts des Personalmangels wird Technik genutzt werden müssen, um personale Pflege auch zu ersetzen – das aber stößt auf Skepsis und Ablehnung.
Prof. Brandt: An den Gedanken von Herrn Prof. Dr. Weber möchte ich anknüpfen. In meiner Dissertation zum Einsatz und Akzeptanzfaktoren von Exoskeletten in der Pflege spielt die Technikakzeptanz eine sehr große Rolle. Die Technologieakzeptanz ist ein wichtiger Faktor für die erfolgreiche Implementierung von digitalen Technologien in der Pflege. In meiner Untersuchung habe ich festgestellt, dass die Akzeptanz von neuen Technologien, wie Exoskeletten bei Pflegenden sehr unterschiedlich ist. Einige sind sehr offen für neue Technologien und sehen die Vorteile, die sie bieten, während andere skeptisch sind und Bedenken haben, dass die Technologie ihre Arbeit ersetzen oder gefährden könnte. Schulungen und Workshops, die in die Curricula eingebettet werden sollten, könnten dazu beitragen, dass Gesundheitsberufe mit den neuen Technologien vertrauter sind und sie effektiv einsetzen können.
Dr. Heidl: Neben den genannten Aspekten bietet die Digitalisierung, eine Entlastung im Berufsalltag, eine verbesserte Kommunikation, Aspekte der Qualitätssicherung sowie Kompetenzentwicklungs- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie auch die Möglichkeit, neue Berufsbilder zu entwickeln. Hierbei benötigt es beispielsweise ein Berufsbild, das sowohl Kompetenzen in der Gesundheits- und Pflegeversorgung beinhaltet, als auch mit Digitalisierung und Datenmanagement bestens bewandert ist, um z. B. Implementierung von technischen Assistenzsystemen organisationsintern qualitativ hochwertig begleiten zu können und auch die Kommunikation, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisation zu führen und voranzubringen, wie Fortbildungen etc. von Mitarbeiter*innen, als auch mit den Organisationen außerhalb, welche die Systeme entwickeln, sich entsprechend auszutauschen und die Prozesse gewinnorientiert zu managen.
QMP: Herr Professor Weber: Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang auch ethische Aspekte?
Prof. Weber: Aus Sicht der Pflege wird durch den Einsatz von Technik sehr weitreichend in die Beziehung zwischen pflegenden und gepflegten Personen eingegriffen – das widerspricht dem Professionsverständnis vieler in der Pflege Tätigen. Wird Pflege von Menschen durch Maschinen ersetzt, könnten sich die so Gepflegten zudem als Personen zweiter Klasse verstehen. Pflegetechnik ist außerdem teuer, sodass sich die Frage nach der sozial gerechten Ausgestaltung des Zugangs stellt. In Deutschland besonders wichtig sind der Schutz von Daten und die Privatsphäre. Vermutlich gibt es noch eine Vielzahl weiterer, im weitesten Sinne verstandener ethischer Aspekte, die bei der Nutzung von (digitaler) Technik in der Pflege zu beachten sind – dazu kommen juristische und ökonomische Aspekte, die zuweilen in Konkurrenz oder gar in Konflikt zu ethischen Ansprüchen stehen können.
QMP: Wie schätzen Sie die Zukunft der Pflege in Deutschland ein? Welche Perspektiven gibt es? Auch im Hinblick auf neue Versorgungskonzepte oder interprofessionelle Zusammenarbeit?
Prof. Weber: Angesichts der demografischen Entwicklung wird die Pflege eine Zukunft haben – es wird sehr viele pflegebedürftige Menschen geben. Um diese allerdings angemessen versorgen zu können, wird kein Weg am verstärkten Einsatz von Technik vorbeiführen, aber auch nicht daran, das Silodenken aufzubrechen und die teilweise unzureichende Zusammenarbeit aller Professionen der Gesundheits- und Pflegeversorgung deutlich zu verbessern. In dieser Hinsicht wird ein Wandel in der Pflegekultur benötigt. Dafür werden Anreize benötigt; es muss für alle Stakeholder*innen sinnvoll und nutzbringend sein, über den eigenen Bereich hinaus möglichst eng mit anderen Stakeholder*innen zusammenzuarbeiten. Dazu muss man den Blick deutlich weiten und mit Professionen zusammenarbeiten, die bzgl. Pflege heute noch weitgehend unbeachtet sind. Nur ein Beispiel: Wer heute ein Haus baut, wünscht sich, dort alt werden zu können. Aber die meisten Einfamilienhäuser (und vermutlich gilt das für Wohnraum allgemein) werden nicht barrierearm gebaut. In vielen, wenn nicht den meisten Neubaugebieten gibt es keinerlei Infrastruktur für den täglichen Bedarf oder ÖPNV – ohne Auto kann man dort kaum leben. Nicht nur in Hinblick auf dieses Beispiel bedarf es weit mehr an interprofessioneller Zusammenarbeit.
Prof. Brandt: Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Digitalisierung, die es uns ermöglicht, neue Formen der Kommunikation und der Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Telematikinfrastruktur und die Teletherapie sind nur zwei Beispiele dafür, wie die Digitalisierung die Pflege und die Gesundheitsversorgung revolutionieren kann. Durch die Verbindung von verschiedenen Gesundheitsberufen und die Nutzung von digitalen Technologien können wir die Versorgung von Patientinnen verbessern und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Professionen stärken. Ein Beispiel dafür ist die Verzahnung der Professionen in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Hier können Ärztinnen, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen und andere Gesundheitsberufe gemeinsam an der Versorgung von Patientinnen arbeiten und ihre Kompetenzen und Erfahrungen austauschen. Dies kann insbesondere bei der Behandlung von geriatrischen Patient*innen wichtig sein, die oft multiple Morbiditäten haben und eine umfassende Versorgung benötigen. Nehmen wir als Beispiel die Behandlung von Patienten mit Oberschenkelhalsfraktur. Hier müssen verschiedene Professionen zusammenarbeiten, um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten. Die Physiotherapie kann dabei helfen, die Mobilität des Patienten zu verbessern, während die Pflege sich bspw. auf die Körperhygiene und die Medikation konzentriert. Durch die interprofessionelle Zusammenarbeit können wir sicherstellen, dass der Patient eine umfassende und individuell auf ihn abgestimmte Versorgung erhält. Insgesamt, denke ich, ist die Zukunft der Pflege in Deutschland von vielen Faktoren abhängig, aber durch die Digitalisierung, die interprofessionelle Zusammenarbeit und die Verzahnung der Professionen können wir den Herausforderungen der Pflege gemeinsam begegnen und eine bessere Versorgung für unsere Patient*innen gewährleisten. Es ist jedoch wichtig, dass wir den Blick weiten und mit Professionen zusammenarbeiten, die bisher noch nicht so stark in der Pflege involviert sind, wie z. B. Architektinnen, die barrierearme Häuser bauen, oder Stadtplanerinnen, die Infrastrukturen für den täglichen Bedarf und den ÖPNV schaffen. Nur durch eine umfassende und interdisziplinäre Herangehensweise können wir die Zukunft der Pflege in Deutschland erfolgreich gestalten.
Dr. Heidl: Die Zukunft der Pflege steht an einem Wendepunkt. Die bereits genannten Aspekte, wie die demografische Entwicklung, Digitalisierung, aber auch gesellschaftliche Werteverschiebungen sowie der Mangel an Fachkräften, sind wesentliche Herausforderungen. Es benötigt neue Perspektiven, die jetzt auf den Weg gebracht werden müssen, wie innovative Versorgungskonzepte, Digitalisierung als Schlüssel zur Entlastung in der Profession, interprofessionelle Zusammenarbeit, sektorenübergreifende Versorgung etc. Vor allem bedarf es einer vermehrten Vernetzung und Verknüpfung in der Pflegeversorgung.
QMP: Welche Unterstützung wünschen Sie sich, sowohl vonseiten der Politik als auch seitens der Gesellschaft?
Prof. Weber: Zum einen muss in Deutschland das Silodenken überwunden werden, zum anderen muss Pflege nicht als Ausnahme-, sondern als Normalfall verstanden werden. Wenn bspw. Wohngebiete für Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf ausgerichtet sind, kommt das allen dort lebenden Personen zugute; wenn Wohnungen und Häuser barrierearm gestaltet werden, ist das eine Investition in die Zukunft, die allen Bewohner*innen hilft. Es müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden, damit ein entsprechendes zukunftsorientiertes Denken gefördert wird. Dabei kommt es darauf an, die Menschen selbst in die Verantwortung zu nehmen. Heute wird oft von Achtsamkeit und Selbstsorge gesprochen, doch in der Regel sind diese Konzepte auf das Hier und Jetzt ausgerichtet und nicht selten ausschließlich auf die eigene Person bezogen.
Wenn Pflege in Zukunft funktionieren soll, müssen solche Konzepte auf eine langfristige Perspektive ausgerichtet werden. Die Externalisierung der Kosten der Pflege an zukünftige Generationen muss – ähnlich wie im Zusammenhang mit Umwelt und Klima – aufhören. Das eigene Altern so zu gestalten, dass Pflege erst spät oder gar nicht notwendig wird, ist zuvorderst eine Aufgabe jeder einzelnen Person und erst dann, wenn die eigenen Möglichkeiten an Grenzen stoßen, eine Verpflichtung der Gesellschaft.
Prof. Brandt: Ich denke zusätzlich noch an die Entwicklung von Community Care. Es könnte einen wichtigen Schritt darstellen, um die Pflege in Deutschland zu verbessern. Durch die Schaffung von Wohngebieten, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf ausgerichtet sind, kann dazu beigetragen werden, dass Menschen in ihrer gewohnten Umgebung leben und alt werden können. Dies erfordert jedoch Veränderungen der Rahmenbedingungen. Dazu gehören Investitionen in die Infrastruktur, wie barrierearme Wohnungen und Häuser, sowie die Förderung von Community Care-Konzepten, die die Selbstsorge und die Achtsamkeit der Menschen fördern.
Dr. Heidl: Politische und strukturelle Voraussetzungen, wie der Aufbau von Pflegekammern, eine weitere Reform der Pflegeversicherung oder auch die Stärkung der Pflegewissenschaft, sind bedeutsame Aspekte für die Zukunft. Die Gestaltung neuer Berufsbilder wie die „Advanced Nursing Practice“ oder auch die „Community Health Nurse“ in der Gesundheits- und Pflegeversorgung oder auch eines/einer Pflege-Digitalisierungsmanager* in, der/die sowohl inner- und außerorganisationalen Digitalisierungs-Prozesse in der Pflegeversorgung implementiert als auch eine digitale Pflegekultur entwickelt und managt, werden benötigt. Gesamtgesellschaftlich sollten wieder vermehrt eine Kultur und ein Netzwerk der gegenseitigen Unterstützung entwickelt werden, um die Herausforderungen in der Gesundheits- und Pflegeversorgung bis zum Jahr 2050, wenn ca. acht Millionen Menschen pflegebedürftig sein werden, zu bewältigen. Mit dem Blick in die Nachbarländer, z. B. Niederlande, wo sich in den vergangenen Jahren ein Pflegekonzept namens „Buurtzorg“, was für Nachbarschaftspflege steht, sehr erfolgreich entwickelt hat. Ich denke, dass in Deutschland alle Möglichkeiten vorhanden sind, die es nun gezielt gilt, umzusetzen und miteinander zu verknüpfen. Die qualitativ hochwertige Pflegeversorgung in Deutschland ist keine individuelle, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Gestaltungsaufgabe.
QMP: Vielen Dank für das Gespräch.
Die Autorin und die Autoren
Christian Heidl (Dr. rer. medic, MSc, Diplom-Pflegewirt) ist assoziierter Forscher am Department für Pflegewissenschaft und Gerontologie an der UMIT TIROL – Private Universität für Gesundheitswissenschaften und -technologie in Hall in Tirol, Österreich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Gesundheits- und Pflegewissenschaft sowie der Gerontologie und Versorgungsforschung. Hierbei liegt sein Fokus auf Themenbereichen wie Digital Health, Innovationen in der Pflege, ethischen Aspekten sowie der Kulturentwicklung in der ambulanten und stationären Gesundheits- und Pflegeversorgung.
Hanna Brandt (Prof. Dr. sc. hum., Physiotherapeutin) ist seit 2010 Physiotherapeutin, hat 2013 ihr B.Sc. in Physiotherapie an der HAWK in Hildesheim absolviert, 2013 bis 2015 Public Heath an der MHH Hannover studiert, 2024 in Humanwissenschaften an der Universität Regensburg promoviert und eine Verwaltungsprofessur in Physiotherapie an der HAWK Göttingen gehabt. Seit 2024 ist sie Professorin für physiotherapeutische (Differential) Diagnose an der Technischen Hochschule Rosenheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die digitalisierte und technisierte Gesundheitsversorgung, interprofessionelle Zusammenarbeit sowie Prävention und Gesundheitsförderung.
Karsten Weber (Prof. Dr. phil. habil.) hat von 1993 bis 1996 Philosophie, Informatik und Soziologie an der Universität Karlsruhe (TH) studiert, dort 1999 in Philosophie promoviert und 2004 an der EUV Frankfurt (Oder) habilitiert. Nach Stationen an der TU Berlin, Universität Opole/Polen und BTU Cottbus-Senftenberg ist er seit 2022 Professor für Technikfolgenabschätzung für KI-gestützte Mobilität an der OTH Regensburg.


