Dokumentation und Expertenstandards

Klassifikationssysteme – Fluch oder Segen für die Pflege

Text: Thomas Güttner | Foto (Header): © Denis Junker – Fotolia.com

Pflegediagnosen – NANDA und ICNP, Pflegeinterventionen NIC, Pflegeergebnisse NOC, handlungsbezogene Messverfahren (z. B. LEP) und zustandsbezogene Messverfahren (z. B. RAI), dies alles sind angewendete und bekannte Klassifikationssysteme in der Pflege im deutschsprachigen Raum. Und bei Weitem stellt dies keine umfassende Aufzählung dar. Wenn Sie bei dem ein oder anderen Kürzel bereits dachten „Was ist das?“, dann erhält die Überschrift bereits Bedeutung. Lassen Sie uns einmal nachspüren, ob wir die Fragestellung beantworten können.

Auszug aus:

QM Praxis in der Pflege
Ausgabe November / Dezember 2014
Jetzt Leser werden

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wofür gibt es Klassifikationssysteme und Pflegediagnosen?

Die Pflegewissenschaft im deutschsprachigen Raum und konkret in Deutschland ist noch eine verhältnismäßig junge wissenschaftliche Disziplin. Ein Aspekt von Professionalisierung und Akademisierung der Pflege ist natürlich eine regelrechte Sehnsucht und gleichsam Notwendigkeit, eine einheitliche Sprachverwendung zu entwickeln.

Auch in der Medizin ist eine heute einheitliche Definition, konkret die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), lange keine Selbstverständlichkeit gewesen. Obwohl die Ursprünge des ICD-Systems bereits in die Mitte des 18. Jahrhunderts reichen, wurde erst ab 1986 der ICD-9 zur Diagnosenverschlüsselung in Kranken häusern verpflichtend eingeführt, für den vertragsärztlichen Bereich sogar erst ab dem Jahr 2000. Aktuell gilt in beiden Bereichen der ICD-10.

Pflegediagnosen

Für den Bereich der Pflege würde eine Beurteilungs- und Erkenntnissystematik, ein Klassifikationssystem z. B. für Pflegediagnosen, natürlich viele Vorteile bringen.

Die verschiedenen Definitionen von Pflegediagnosen

Eine Pflegediagnose ist die klinische Beurteilung der Reaktion von Einzelpersonen, Familien oder sozialen Gemeinschaften auf aktuelle oder potenzielle Probleme der Gesundheit oder im Lebensprozess (NANDA, 1990).

Diese, auch nach Einschätzung des Deutschen Pflegeverbandes (DPV) e.V. als allgemeingültig anzusehende Definition ist bis heute nicht vollständig und für die wesentlichen Themenfelder als verbindliches System weiterentwickelt worden. Selbstverständlich ist der aktuelle Forschungs- und Diskussionsstand um ein Vielfaches weiter als 1990, aber eben noch nicht in ein nationales bzw. internationales Klassifikationssystem überführt worden.

Pflegediagnosen sind Beschreibungen konkreter pflegerischer Einschätzungen von menschlichen, gesundheitsbezogenen Verhaltens- und Reaktionsweisen im Lebensprozess (Definition nach POP 2009).

Problemfelder im Zusammenhang mit Pflegediagnosen

Im Gegensatz zu medizinischen Diagnosen steht „die Pflegediagnose“ bzw. steht ein verbindliches Klassifikationssystem vor der Schwierigkeit, auch durch kulturgesellschaftliche und historische Faktoren beeinflusst zu werden. Übersetzungen (z. B. aus dem Amerikanischen) sind damit nur begrenzt möglich, da Sprache als Ausdruck der Kultur nicht universell ist. Um valide Pflegediagnosen zu erhalten, sind daher aufwendige Forschungen erforderlich.

Unterschiedliche Forschungsarbeiten und wissenschaftliche Beiträge haben mittlerweile gezeigt, dass bereits das Vorhandensein von explizitem und implizitem Wissen der Pflegenden im jeweiligen Situationskontext die Klassifikationssysteme schnell an ihre Grenzen kommen lässt. Ilka Wicha zeigte bereits in ihrer Diplomarbeit von 2001, dass „… die seit einigen Jahren propagierten Klassifikationssysteme […] dieser Komplexität pflegerischer Wirklichkeit und pflegerischen Handelns nicht hinreichend gerecht [werden]. Klassifikationssysteme in der Pflege sind bislang daher nicht in der Lage, das vieldimensionale Geflecht von Zuständen, Befindlichkeiten und beeinflussende Faktoren abzubilden. Bestehende Klassifikationssysteme bieten keine ausreichende Flexibilität im Umgang mit der Individualität der Patientinnen. Nicht formalisierbare Anteile pflegerischen Handelns wie z. B. Beziehungsfähigkeit, Gefühlsarbeit, Intuition kommen in den Klassifikationssystemen zu kurz.“

Normative, empirische und andere Klassifikationssysteme

Uns allen bekannt ist das normative Klassifikationssystem der aktuellen Pflegestufen. Normativ, da letztlich ein gesetzter Zeitbedarf und eine nicht umfassende Kriteriensammlung zu Hilfebedarfen zur Einteilung in eine Pflegestufe führen. Dieses System ist bekannterweise nicht in der Lage, eine zweckmäßige Zukunftsbasis zu bieten, und wurde dazu auch nicht entwickelt.

Was braucht es also?

Eine Klassifikation als ein Ordnungssystem, welches auf dem Prinzip der Klassenbildung beruht. Eine Klassifikationsstruktur ist dabei eine Auflistung von Begriffen oder Konzepten, die in einer hierarchischen Struktur dargestellt ist. Die Einteilung verschiedener Phänomene oder Begriffe der Pflege in Gruppen, Klassen, Kategorien (die durch Ordnen nach Merkmalstypen und Merkmalen zustande kommen) kann als Pflegeklassifikation bezeichnet werden, so aus dem Vortrag von Pia Wieteck.

Der Vortrag fokussiert auf die aktuellen Entwicklungen zum ENP (European Nursing care Pathways). Dieses System versucht die Abbildung des Pflegeprozesses im Rahmen der Dokumentation in einer einheitlichen, standardisierten Fachsprache. Es berücksichtigt auch bisherige Pflegediagnosen des NANDA.

Was steht aktuell an?

Als Einstieg in ein empirisches System kann aktuell das Neue Begutachtungs-Assessment (NBA, Wingenfeld u. a.) betrachtet werden. Dabei werden zeitunabhängige Kriterien für die Pflegebedürftigkeit identifiziert. Mit dem Neuen Begutachtungs-Assessment (NBA) wird, nach Darstellung der GKV, gemessen, was der Pflegebedürftige noch kann. Erfasst wird der Grad der Selbstständigkeit einer Person bei Aktivitäten in insgesamt sechs pflegerelevanten Bereichen wie z. B. kognitive und kommunikative Fähigkeiten oder der Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen. Das Instrument berücksichtigt damit auch den besonderen Hilfe- und Betreuungsbedarf von Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen, was bisher nicht möglich war. Aus den Ergebnissen der Prüfung ergibt sich die Einordnung in einen der fünf Pflegegrade. Die Prüfergebnisse von zwei weiteren Modulen (außerhäusliche Aktivitäten, Haushaltsführung) gehen nicht in die abschließende Bewertung der Pflegebedürftigkeit einer Person ein. Das NBA ist dabei mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff verbunden.

Wie hängen NBA und Klassifikationssysteme zusammen?

Systeme wie das ENP sind grundsätzlich als Klassifikationssysteme zu sehen, deren Hauptaugenmerk auf der Ableitung professioneller Pflegeinterventionen auf Basis einheitlicher Pflegediagnosen beruht; sie sind valide und evidenzbasiert.

Das NBA ist letztlich zur Bemessung der Pflegestufe vorgesehen, d. h. unterstützt nicht direkt den Pflegeprozess und die Pflegehandlung, sondern dient der Bestimmung des Pflegegrades / der Pflegestufe. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD vom Herbst 2013 ist festgeschrieben, dass mit der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes begonnen werden soll. Nach Abschluss der Modellprojekte soll 2015 die Gesetzgebung anlaufen und dafür sind noch die Ergebnisse der Praxiserprobung einzubeziehen.

Im Sinne eines verbindlichen nationalen Klassifikationssystems sind derzeit keine zeitnahen Ergebnisse erkennbar.

Teilsystem zur Klassifikation

Neben den umfassenden Klassifikationssystemen, die hier im Artikel im Vordergrund stehen, sind auch weitere Einschätzungssysteme vorhanden, die über Assessments für spezielle Pflegesituationen (z. B. Gefährdungsbeurteilungen für Sturz etc.) hinausgehen. Ein Beispiel ist das Resident Assessment Instrument (RAI), welches in Deutschland in der Langzeitpflege und bei geriatrischen-Patienten eingesetzt wird. Integriert ist das Minimum Data Set (MDS): ein strukturierter Klientenbeurteilungsbogen mit 250 Items. Insgesamt wird das RAI meist als nicht ausreichend valide bezeichnet und ist auch aufgrund seines Umfanges eher wenig verbreitet.

Pro und kontra Pflegediagnose

Bevor sich die Eingangsfrage, ob sich Klassifikationssysteme als Fluch oder Segen für die Pflege bezeichnen lassen, lohnt es sich, Vor- und Nachteile von Pflegediagnosen (als wesentlichen Bestandteil von Klassifikationssystemen) gegenüberzustellen:

Vorteile von Pflegediagnosen

  • Pflegediagnosen sind in den Pflegeprozess gut zu integrieren, da sie lediglich die unklassifizierten Pflegeprobleme ersetzen.
  • Eine Orientierungshilfe für Patienten, wenn die Pflegediagnosen öffentlich bekannt werden.
  • Grundlage für Verhandlungen mit Kassen, da ein Nachweis besteht, der die Leistungen darstellt, die mit bestimmten Pflegediagnosen verbunden sind.
  • Pflegediagnosen bieten eine einheitliche Diskussionsgrundlage.
  • Pflegediagnosen fördern die Kommunikation (bei Verlegungen, Übergaben, Überleitung …).
  • Pflegediagnosen helfen bei der Kosten- und Leistungsrechnung und der Personalbedarfsermittlung.
  • Pflegediagnosen erleichtern die Beratung von Patienten, Ärzten und anderen Berufsgruppen.
  • Pflegediagnosen dienen zur Qualitätssicherung, da von ihnen Kriterien für Qualität abgeleitet werden können.
  • Pflegediagnosen unterstützen die ganzheitliche Behandlung, da sie die Lücken von medizinischen Diagnosen füllen.
  • Pflegediagnosen dienen zu Pflegeforschung und Theorieentwicklung.
  • Pflegediagnosen können das Selbstbewusstsein des Pflegepersonals stärken.
  • Gemeinsame Zielentwicklung in der Pflege.

Nachteile von Pflegediagnosen

  • Zuordnung der Pflegediagnose nicht immer klar (z. B. Erbrechen bei Gehirnerschütterung oder bei Magenverstimmung).
  • Eventuelle Machtkämpfe mit den Ärzten, die die Pflegediagnosen als Gegenpol zu ihren medizinischen Diagnosen sehen.
  • Pflegediagnosen machen Menschen evtl. kränker, als sie wirklich sind, da unbedingt eine Diagnose „her muss“.
  • Pflegepersonen schätzen den Zustand des Patienten unterschiedlich ein. Daraus resultieren unterschiedliche Diagnosen.
  • Jeder hat andere soziale und kulturelle Normen. Durch die unterschiedlichen Kulturen, die in Deutschland leben, müssten unterschiedliche Diagnosen erarbeitet werden.
  • Anfängliche Umstellungsprobleme, die mit viel Zeit und Mühe für die Pflegenden verbunden sind.

Die Vorteile überwiegen m. E. deutlich und sind hier sicher nicht abschließend aufgelistet.

Zur weiteren Beschäftigung gibt Ihnen die unten stehenden Tabelle einen kurzen Überblick über die wichtigsten Klassifikationssysteme, die derzeit national und vor allem auch international existieren.

Was denn nun – Fluch oder Segen?

Klar und eindeutig: Die Beschäftigung mit Pflegeklassifikationssystemen lohnt sich. Auch wenn noch „das eine und verbindliche System“ fehlt, so sorgt allein die Beschäftigung mit Klassifikationssystemen dafür, dass Pflege transparenter wird. Die Diskussion unterstützt die Professionalisierung und hilft dabei, sich auch mit anderen Berufsgruppen bezüglich der Bedeutung und auch Eigenständigkeit der Pflege zu positionieren. In einer Zeit, in der zunehmend und aus Kostengründen pflegerische Handlungen an Ungelernte delegiert werden, ist es umso wichtiger, den beruflich verantwortlich Pflegenden ein professionelles Instrument an die Hand zu geben.

Der Autor

Thomas Güttner
Pflegefachkraft mit langjähriger Leitungserfahrung in der stationären Altenpflege, Qualitätsmanager (CQa/DGQ), EFQM-Assessor (gem. EOQ), seit 2010 hauptamtlicher Vorstand des Caritasverbandes Duisburg e. V., Fachwirt im Sozial- und Gesundheitswesen, Akademiestudium in den Bereichen Arbeits- und Organisationspsychologie.

JETZT ABONNENT WERDEN UND KEINE AUSGABE VERPASSEN:

QM-Praxis in der Pflege

Die Fachzeitschrift für
QM- und Hygienebeauftragte