Dokumentation und Expertenstandards
Übersicht über aktuelle Assessmentinstrumente und ein Ausblick
Text: Thomas Güttner | Foto (Header): © Trueffelpix – Fotolia.com
„Messen“, „Einschätzen“ und „Bewerten“ von pfl egebezogenen oder pflegerelevanten Zuständen ist der Inhalt pflegerischer Assessments. Die Definition beinhaltet nach Reuschenbach die Einschätzung pflegerelevanter Variablen und Phänomene zum Zweck der Bewertung und / oder der nachfolgenden Handlungsinitiierung1.
Auszug aus:
QM Praxis in der Pflege
Ausgabe Januar / Februar 2015
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National und international ist die Anzahl verfügbarer Skalen, strukturierter Interviewleitfäden und Messinstrumente recht hoch. Ihren Einfluss auf die Pflegepraxis2 erlangen die Assessments vor allem als Instrumente, um zur Pflegediagnose zu kommen. Diese Pflegediagnose ebnet den Weg zur Planung und Umsetzung der Pflegemaßnahmen. Ein einheitliches Diagnosesystem ist derzeit noch nicht etabliert und damit rückwirkend auch kein einheitlicher und verbindlicher Assessmentkatalog vorhanden.
Aktuelle Forschungsprojekte und Veröffentlichungen bewerten den ergänzenden Einfluss von nicht instrumentengestützten Assessments, also Beobachtungen und Befragungen, und das intuitive und implizite Wissen der erfahrenen Pflegefach recht unterschiedlich.
Die Genauigkeit und Praxistauglichkeit der Instrumente wird national vor allem durch die Überprüfung der Expertenstandards beeinflusst. So sind zuletzt die Skalen zur Einschätzung der relevanten Risiken bei Sturz, Schmerzen und Ernährungsmangel überprüft worden und wir stehen kurz vor der Implementierung des Expertenstandards zur Mobilität.
Aktuell verlieren, durch die Bestrebungen zur Entbürokratisierung, die Skalen zur Einschätzung der täglichen Aktivitäten, wie die AEDL, ATL und auch der Barthel-Index an Bedeutung für die Langzeitpflege. In Deutschland haben auch umfassende Werkzeuge, wie das Resident Assessment Instrument (RAI), keine flächendeckende Verbreitung gefunden, obwohl es beispielsweise im deutschsprachigen Ausland (wie Österreich) eingesetzt wird3.
Dekubitusrisiko
Norton-, Waterlow- und Braden-Skala sind die TOP 3 zur Erfassung des Dekubitusrisikos. Alle drei sind in Anwendung in der Praxis und werden im Expertenstandard benannt. Eine konkrete Empfehlung fehlt zwar, aber es existieren umfassende Studien zur Anwendbarkeit und zur Validität. Es gibt nicht die eine zu empfehlende Skala, wenngleich die Braden-Skala nach wie vor als allgemein anerkannt gilt.
In der Praxis ist der Kosten-Nutzen-Aspekt von Bedeutung. D. h., die konkreten Bedingungen vor Ort entscheiden über den Einsatz. Denn wenn eine hohe Fachkraftquote vorliegt und eine geringe Dekubitusentstehungsrate in Verbindung mit differenzierter Pflegeanamnese und –planung ist der Einsatz einer Skala obsolet. Demgegenüber ist beispielsweise bei hohem Wechsel im Personal der Einsatz der Bradenskala eher angezeigt um eine Qualitätssicherung herbeizuführen.
Risikoskalen werden nach der Revision des Expertenstandards von 2010 nicht mehr explizit empfohlen. Es wird aber nicht von der Nutzung abgeraten, da die Skalen eine Einschätzungshilfe (zum Beispiel für noch unerfahrene Pflegefachkräfte) sein können.
Ernährung
Auch für den Bereich der Ernährung, einschließlich der Flüssigkeitsversorgung, sind seit Jahren Assessments im Einsatz, allerdings kann trotz der Vielzahl an Instrumenten für die Erfassung und Einschätzung der Ernährungssituation kein Instrument identifiziert werden, welches für die Nutzung in der Pflege vorbehaltlos empfohlen werden kann.
Ganz aktuell hat der MDS seine Handreichung zur Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung von älteren Menschen aktualisiert und daraus wird bereits erkennbar, dass ein umfassendes und trotzdem einfaches Assessmentinstrument kaum zu finden ist, da die Komplexität des Themas sehr hoch ist.
Als Einsatzzweck für diesen Bereich, im Sinne einer Ersteinschätzung (Screening), können jedoch einfache Instrumente wie das MNA (Mini Nutritional Assessment) eingesetzt werden. Für die Informationssammlung sind jedoch Protokolle der Ess- und Trinkmenge, einschl. Dokumentation von Nebenbeobachtungen, das Mittel der Wahl.
Chronische Wunden
Bei der Wundversorgung ist neben bzw. im Rahmen der medizinischen Wunddiagnose die genaue Wunddokumentation entscheidend, wobei eine Schweregradeinteilung nach anerkannten Klassifikationssystemen entscheidend ist. Folgende Parameter (Daten), nach dem DNQP-Expertenstandard, sind zu erfassen:
- Wundart
- Lokalisation
- Wunddauer
- Rezidivzahl
- Wundgröße
- Wundgrund
- Wundexsudat
- Wundgeruch
- Infektionszeichen
- Wundumgebung
- Wundschmerz
- Besonderheiten / Sonstiges
Die gängigen Marktführer von Verbandstoffen, wie Coloplast, Hartmann etc., bieten herzu umfassende Assessment- und Verlaufbögen an, die teilweise mittels Fotodokumentation oder softwarebasiert ergänzt werden.
Schmerzmanagement
Im Zuge des Expertenstandards hat das Thema Schmerzmanagement in der Pflege neue Bedeutung erhalten. Oft, auch noch heute, ist die ärztliche und pflegerische Handhabung der Schmerzen jedoch nicht ausreichend bzw. angemessen. Den wesentlichen Fortschritt hat das Schmerzmanagement dadurch erhalten, dass nun Schmerzzustände erhoben werden, um sie dann auch zu beheben bzw. handhabbar zu machen.
Durch eine systematische Befragung im Rahmen des Dt. Schmerzfragebogens, der von der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e. V. (DGS) und der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. (DGSS) bereits 2002 entwickelt wurde, sollen alle Dimensionen des Schmerzes erfasst und dokumentiert werden.
Neben demografi schen und biografischen Angaben werden anhand von 25 Fragen der Schmerzzustand, die Schmerzintensität, die genaue Lokalisation, die Schmerzdauer (seit wann bestehend, wie oft auftretend) und das Schmerzmuster erfasst. In dem Deutschen Schmerzfragebogen sind auch die numerische Ratingscale (NRS) und Körperabbildungen, die auch im Brief Pain Inventory (BPI) zu finden sind, enthalten. Gerade für chronische Schmerzen ist ein Schmerztagebuch empfehlenswert, das als Erweiterung des Schmerzfragebogens anzusehen ist (vgl. www.deutscher-schmerzfragebogen.de).
Sturz und Mobilität
Sturzereignisse lassen sich nach aktuell anerkanntem Stand weitestgehend durch Prophylaxen vermeiden. Dazu gehört eine umfassende Informationssammlung und (wenn es bereits dazu kam) die Dokumentation und Auswertung von Sturzereignissen.
Die Aktualisierung des DNQP-Expertenstandards hat gezeigt, dass auf Assessmentinstrumente verzichtet werden kann, wenn eine pflegerische Einschätzung aufgrund von profundem Wissen erfolgt. Es ist in den letzten Forschungsjahren immer deutlicher geworden, dass ein routinemäßiger Assessmenteinsatz keine Verbesserung der Situation nach sich zieht.
In diesem Zusammenhang ist die Mobilität insgesamt von Bedeutung. Aus dem Bereich der Physiotherapie sind umfangreiche und gut erforschte Assessments bekannt, die vor allem auch aus dem Bereich der Behandlung von Schlaganfallpatienten kommen.
Für die Pflege (besonders auch in der Geriatrie verbreitet) ist der Barthel-Index sicher am bekanntesten. Allerdings ist die Aussagekraft dieses Tests für den Bereich Mobilität begrenzt, da nur der Grad der Selbstständigkeit, aber keine anderen qualitativen oder quantitativen Faktoren gemessen werden. So ist bekannt, dass das Assessment gerade bei mobilen und chronischen Klienten nur begrenzte Sensitivität bezüglich Veränderungen der Mobilität besitzen. Für die Verlaufskontrolle (z. B. in der Frührehabilitation bei Schlaganfallpatienten) hat der Barthel-Index sicher weiterhin Bedeutung, für die Langzeitpflege eher nicht.
Harninkontinenz
Die Autoren der Leitlinie Harninkontinenz bewerten geriatrische mehrdimensionale Assessments als zuträglich für das Thema Harninkontinenz. Dabei geht es vor allem um die Einschätzung der Selbstständigkeit wie beim Barthel-Index. Symptomfragebögen, Lebensqualitäts-Assessments sowie die klinische Untersuchung und die urodynamische Untersuchung beleuchten unterschiedliche Aspekte der Inkontinenz, damit ergänzen sie sich.
Das Ausmaß der Symptome, die Einschätzung der Lebensqualität, die Ergebnisse der objektiven klinischen und urodynamischen Daten können voneinander abweichen, dennoch vermitteln sie in der Zusammenschau einen umfassenden Eindruck des Patienten und ermöglichen ein differenziertes und individuelles therapeutisches Vorgehen.
Solche spezifi schen Fragebögen sind jedoch für die Langzeitpflege zu aufwendig und können auch wegen der diagnostischen Erfordernisse nur im klinischen Umfeld erfolgen4.
Demenz und kognitive Einschätzung
Die MMS (Mini-Mental-Status) und die ADAS (Alzheimer Disease Assessment Scale) als quantitative Instrumente eignen sich aufgrund ihrer vergleichsweise leichten Anwendbarkeit und ihrer Kürze sowie ihrer insgesamt zufriedenstellenden Aussagekraft weiterhin gut als Routinescreening bzw. zur Verlaufskontrolle5.
Der Mini-Mental-Status ist hinlänglich bekannt, anders die ADAS. Dabei handelt es sich um eine Einschätzung des kognitiven und nicht-kognitiven Status bei Alzheimer-Demenz, die in etwa 30 – 45 Minuten erfolgen kann. In der klinischen Forschung ist das Instrument bekannt, weniger jedoch im Pflegebereich. Das liegt vor allem auch an dessen Komplexität, da der Untersuchende Erfahrung und Wissen benötigt und auch Hilfsmittel in Form von Wortlisten und Bildkarten bzw. Gegenständen erforderlich sind.
Allerdings ist die Diagnostik und die Messung des kognitiven Status bei eingeschränkter Alltagskompetenz und demenziellen Erkrankungen äußerst komplex und aktuell existiert auch noch kein Expertenstandard zu dem Themenfeld. Da das Thema in der Langzeitpflege, ambulant wie stationär, jedoch eine hohe Praxisrelevanz hat, lohnt hier der Blick zu einem weiteren Instrument.
Das Dementia Care Mapping (DCM). Das DCM geht auf Tom Kitwood zurück und ist seit etwa 1997 bekannt. Kitwood formulierte als Grundlage des Instrumentes fünf psychische Grundbedürfnisse von Menschen (mit Demenz), die es zu befriedigen gelte und welche bei unzureichender Erfüllung unter Umständen zu herausfordernden Verhaltensweisen führen
könnten. Diese sind die Bedürfnisse nach:
- Trost (comfort)
- primärer Bindung (attachment)
- Einbeziehung (inclusion)
- Beschäftigung (occupation)
- Identität (identity).
Bei der Verhaltenserfassung dokumentieren ausgebildete Beobachter (sog. Mapper) den Bewohner / Patienten über mehrere Stunden und werten die auf einem standardisierten Datenblatt erfassten Angaben statistisch aus. Für den schnellen täglichen Einsatz ist es allerdings zu aufwendig und zielt eher auf Teamentwicklung ab.
Weitere Assessmentinstrumente
Auch das Neue Begutachtungsinstrument (NBA), welches im Rahmen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes eingeführt werden soll, hat den Charakter eines Assessments. Im jetzigen Prüfverfahren, so der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung auf seiner Webseite, wird nach dem Hilfebedarf der betroffenen Person gefragt. Es soll geklärt werden, welche Form und welchen Umfang in Minuten pro Tag die benötigte Unterstützung annimmt, wie häufig die Unterstützung pro Tag und pro Woche gewährt werden muss. Hierzu werden die Körperpflege, die Ernährung und die Mobilität der betroffenen Person untersucht.
Das neue Begutachtungsassessment prüft die Pflegebedürftigkeit in sechs Modulen:
- der Mobilität,
- den kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten,
- den Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen,
- der Selbstversorgung,
- dem Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie
- bei der Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
Die Prüfergebnisse der Module 7 (Außerhäusliche Aktivitäten) und 8 (Haushaltsführung) gehen nicht in die abschließende Bewertung der Pflegebedürftigkeit einer Person ein.
Damit wird deutlich, dass die Prüfung von Pflegebedürftigkeit mit dem neuen Begutachtungsassessment eine differenziertere und angemessenere Prüfung von Unterstützungsbedarf darstellt, da sie nicht alleine körperliche Verrichtungen, sondern auch kognitive und psychische Einschränkungen von Selbstständigkeit berücksichtigt.
Schlussbetrachtung
Im deutschen Sprachraum sind die Assessments mit den Erstveröffentlichungen in die Praxis gelangt und haben häufig zu einer routinehaften Anwendung geführt, die der MDK auch in seinen Qualitätsprüfungen kontrolliert hat.
Die aktuelle Pflegeforschung zeigt jedoch deutlich, dass die meisten Assessments im Vergleich zur Einschätzung der berufserfahrenen Pflegefachkraft weniger aussagekräftig sind bzw. wenig neue Erkenntnisse liefern.
In der anstehenden Einführung des NBA und auch in der Überprüfungsstudie zur „Praktischen Anwendung des Strukturmodells – Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation in der ambulanten und stationären Langzeitpflege“ (Elisabeth Beikirch, April 2014) liegt die Chance, sich von routinehaften Assessments zugunsten einer professionellen Einschätzung berufserfahrener Pflegefachkräfte zu verabschieden und nur noch die Assessments zu verwenden, die wissenschaftlich überprüft und praktikabel sind.
Literaturverzeichnis
Becker, Klaus (2014): Leitlinie Harn – inkontinenz der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. S1-Leitlinie 084/001: Harninkontinenz. Hg. v. AWMF online. Online verfügbar unter www.awmf.org/uploads/tx…/084-001l_S1_Harninkontinenz_2014-09.p…, zuletzt geprüft am 30.12.2014.
Fritz, Elfriede (2013): Assessmentinstrumente für die Pflege. Vortrag beim Ländlepflegetag am 15.11.2013. Umit. Private Universität für Gesundheitswissenschaften. Tirol. Online verfügbar unter www.lkhf.at/redaktion/uploads/…/assessment_l_ndlepflegetag_2013.pdf, zuletzt geprüft am 16.12.2014.
Reuschenbach, Bernd; Mahler, Cornelia; Ahlsdorf, Elke (2011): Pflegebezogene Assessmentinstrumente. Internationales Handbuch für Pflegeforschung und -praxis. 1. Aufl . Bern: H. Huber (Programmbereich Pflege). Online verfügbar unter www.worldcat.org/oclc/759082435, zuletzt geprüft am 30.12.2014.
1 Vgl. Reuschenbach, Bernd; Mahler, Cornelia; Ahlsdorf, Elke (2011): Pflegebezogene Assessmentinstrumente. Internationales Handbuch für Pflegeforschung und -praxis. 1. Aufl . Bern: H. Huber (Programmbereich Pflege).
2 Reuschenbach et al. 2011, S. 29.
3 Fritz 2013
4 Becker 2014, S. 30–44
5 Reuschenbach et al. 2011, S. 365
Der Autor
Thomas Güttner
Pflegefachkraft mit langjähriger Leitungserfahrung in der stationären Altenpflege, Qualitätsmanager (CQa/DGQ), EFQM-Assessor (gem. EOQ), seit 2010 hauptamtlicher Vorstand des Caritasverbandes Duisburg e. V., Fachwirt im Sozial -und Gesundheitswesen, Akademiestudium in den Bereichen Arbeits- und Organisationspsychologie.